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09.08.2022

Sorgerechtsstreit: Zum zuständigen Gericht bei Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in einen Drittstaat

Ein Gericht eines EU-Mitgliedstaats behält die nach der Brüssel-IIa-Verordnung bestehende Zuständigkeit in einem das Sorgerecht betreffenden Rechtsstreit nicht, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes im Lauf des Verfahrens rechtmäßig in das Hoheitsgebiet eines Drittstaats verlegt worden ist, der Vertragspartei des Haager Übereinkommens von 1996 ist. Dies hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden.

Im Jahr 2011 brachte einer Mutter in Schweden ein Kind zur Welt, für das sie seit seiner Geburt das alleinige Sorgerecht innehatte. Bis Oktober 2019 lebte das Kind durchgängig in Schweden. Seit Oktober 2019 besucht es ein Internat, das sich im Hoheitsgebiet der Russischen Föderation befindet. Im Dezember 2019 beantragte der Vater des Kindes vor dem zuständigen erstinstanzlichen schwedischen Gericht, ihm das alleinige Sorgerecht zu übertragen und seinen Wohnsitz in Schweden als gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes zu bestimmen. Die Mutter berief sich auf die Unzuständigkeit des schwedischen Gerichts, weil das Kind seit Oktober 2019 seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Russland habe. Das schwedische Gericht wies die von der Mutter geltend gemachte Einrede der Unzuständigkeit zurück, weil zum Zeitpunkt der Antragstellung der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes noch nicht nach Russland verlegt gewesen sei. Das schwedische Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung, dass die schwedischen Gerichte zuständig seien.

Der Oberste Gerichtshof in Schweden, bei dem die Mutter Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts eingelegt hat, möchte vom EuGH wissen, ob die Brüssel-IIa-Verordnung dahin auszulegen ist, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats, bei dem ein die elterliche Verantwortung betreffender Rechtsstreit anhängig ist, seine nach Artikel 8 Absatz 1 dieser Verordnung bestehende Zuständigkeit für die Entscheidung über diesen Rechtsstreit behält, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des betreffenden Kindes im Lauf des Verfahrens rechtmäßig in das Hoheitsgebiet eines Drittstaats verlegt worden ist, der Vertragspartei das Haager Übereinkommens von 1996 ist.

Der EuGH stellt fest, dass für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, nach Artikel 8 Absatz 1 der Brüssel-IIa-Verordnung die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Denn wegen ihrer räumlichen Nähe seien diese Gerichte im Allgemeinen am Besten in der Lage, die zum Wohl des Kindes zu erlassenden Maßnahmen zu beurteilen. In diesem Artikel, der auf den Zeitpunkt der Antragstellung vor dem Gericht des Mitgliedstaats abstellt, komme der Grundsatz der perpetuatio fori zum Ausdruck, der besage, dass dieses Gericht seine Zuständigkeit selbst dann nicht verliert, wenn das betreffende Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Lauf des Verfahrens verlegen sollte. Folglich sei, wenn das betreffende Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet dieses Mitgliedstaats hat, grundsätzlich dieses Gericht für die Entscheidung über die elterliche Verantwortung auch insoweit zuständig, als der Rechtsstreit das Verhältnis zu einem Drittstaat betrifft.

Artikel 61a der Brüssel-IIa-Verordnung sehe jedoch vor, dass im Verhältnis zum Haager Übereinkommen von 1996 diese Verordnung anwendbar ist, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung des zuständigen Gerichts "das betreffende Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat". Also müsse, wenn das Kind zu diesem Zeitpunkt seinen Aufenthalt nicht mehr im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, sondern in dem eines Drittstaats hat, der Vertragspartei dieses Übereinkommens ist, Artikel 8 Absatz 1 der Verordnung hinter dem Haager Übereinkommen von 1996 zurückstehen. Somit finde dieser keine Anwendung mehr, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes in das Hoheitsgebiet eines Drittstaats, der Vertragspartei das Haager Übereinkommens von 1996 ist, verlegt worden ist, bevor das mit dem Rechtsstreit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung befasste zuständige Gericht eines Mitgliedstaats entschieden hat.

Die in Artikel 61a der Brüssel-IIa-Verordnung vorgenommene Beschränkung der Anwendbarkeit von Artikel 8 Absatz 1 dieser Verordnung ab dem Zeitpunkt, zu dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht mehr im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, sondern im Hoheitsgebiet eines Drittstaats hat, der Vertragspartei des Haager Übereinkommens von 1996 ist, sei auch mit der Absicht des Unionsgesetzgebers vereinbar, nicht gegen die Vorschriften dieses Übereinkommens zu verstoßen.

Der EuGH kommt daher zu dem Ergebnis, dass Artikel 8 Absatz 1 der Brüssel-IIa Verordnung in Verbindung mit deren Artikel 61a dahin auszulegen ist, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats, bei dem ein die elterliche Verantwortung betreffender Rechtsstreit anhängig ist, die nach diesem Artikel 8 Absatz 1 bestehende Zuständigkeit für die Entscheidung über diesen Rechtsstreit nicht behält, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des betreffenden Kindes im Lauf des Verfahrens rechtmäßig in das Hoheitsgebiet eines Drittstaats verlegt wird, der Vertragspartei das Haager Übereinkommens von 1996 ist.

Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 14.07.2022, C-572/21